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Zähmen heißt, sich vertraut machen

In den ersten Herbsttagen durften wir uns an der Ostsee erholen und ich genoss die Spaziergänge am Übergang von rhythmischem Fließen des Meerwassers und weichem Sand des Festlands. An einem Abend trieb stürmischer Wind hohe Wellen mit weißen Gischtkronen an den Strand. Im Abendlicht glitten zwei Kitesurfer auf ihren Brettern über die Wellen im rasanten Tempo des mitreißenden Luftstroms in den prallgefüllten Gleitschirmen. Die ungestüme Kraft von Luft und Wasser, eingespannt zwischen Brett und Schirm, gezähmt durch das straff gehaltene Seil, erlaubte den geübten Surfern einen lustvoll wilden Tanz.

Spontan sehe ich vor meinem inneren Auge eine Zeichnung der Zehn Ochsenbilder, die auf den Bild- und Textzyklus aus dem 12 Jhdt. des chinesischen Zen-Meisters Kuoan Shiyuan zurückgehen und unvergleichbar den Weg der Selbstfindung im Zen, dem Erwachen aus der Illusion des Getrenntseins und seiner Verkörperung im Alltag illustrieren.
Im 4. Bild erscheint das Einfangen und Zähmen der wilden Kraft des Ochsen, der das eigentliche, tiefe Selbst symbolisiert. Seine enorme Zugkraft erlaubt dem Hirten, dem Menschen schlechthin, kein Zögern und Zaudern beim Halten und Lenken des straff gespannten Seils. Wie ist diese Kraft zu zähmen, was heißt zähmen und wer zähmt wen? Ich erinnere mich an den Fuchs, der dem kleinen Prinzen in der gleichnamigen Geschichte von Saint-Exupery auf diese Frage antwortet: „Zähmen heißt, sich vertraut machen“. Das geschieht nicht von heute auf morgen, nicht nebenher. Es geschieht allmählich, wenn ich zuverlässig und aufmerksam da bin, nicht nachlasse und achtsam verweile und mich bedingungslos einlasse auf eine tiefe Selbstbegegnung und ihre verwandelnde Kraft. So erlebe ich Zazen: In der Ausdauer und Treue zur Übung allmählich innig vertraut werden mit der Wesensnatur.

Seit 9 Jahren lädt das Zen Zentrum Offener Kreis ein, dieses Vertrautmachen in einem Raum konzentrierender Stille einzuüben. Und davor stand das Meditationszentrum im Romerohaus schon 9 Jahre dafür offen. Im kleinen Kreis haben wir diese zuverlässige und treue Offenheit für Menschen, die sich nach dem Erwachen sehnen, in einer schlichten Feier würdigen dürfen.
Großen Dank der Gründerin, Dir Anna Gamma und dem Gründer, Dir Gerhard Hüppi.

Gabriele Geiger-Stappel, sensei – Newsletter Okt.24 Zenzentrum Offener Kreis Luzern