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„Nur leben, nur sterben – inmitten von weder Leben noch Tod“

Manchmal walke ich morgens durch den nahe gelegenen Park. Die Spazierwege sind kleine Alleen, gesäumt von Bäumen der Zierkirsche und gerade verzaubert von einem weiß-rosa Blütenrausch soweit das Auge reicht. Zart-süßer Duft mischt sich in die frische Morgenluft und die Amseln betören das Ohr mit ihrem Jubilieren. Die Natur ist erwacht und sprüht vor unbändiger Lebenskraft, die mitreißt und deren Schönheit tief anrührt.
Und gleichzeitig ist da eine unwiderlegbare Realität auf unserem Planeten Erde, dessen Lebendigkeit in bedrückender Weise bedroht ist: Wir leben in der Zeit einer der größten Artensterben in der Erdgeschichte, Frucht der kollektiven Lebens-Art der Spezies Mensch. Die Zahl der in rasanter Geschwindigkeit sterbenden Arten ist unermesslich.
Wenn wir zu Beginn des Zazen die großen Gelöbnisse sprechen, richten wir uns darauf aus, in Einheit mit allen Lebewesen zu leben, das bedeutet auch, in Einheit mit den aussterbenden Arten zu sterben. Ein alter Meister sagt: „Nur leben, nur sterben – inmitten von weder Leben noch Tod“.
Dieses Sterben braucht unseren ganzen Mut, genau hinzuschauen was ist und wahrzunehmen, wie wir unsere eigene Lebendigkeit einfrieren. Das Sterben verlangt das Wagnis, die vermeintliche Sicherheit von routinierter Kontrolle, von gewohntem Komfort und Konsum als betäubende Beengtheit zu entlarven und ihre destruktiven Wirkungen zu realisieren. Wir werden konfrontiert mit unserer Angst, mit Schmerz und Trauer. Jedoch nicht nur dies: wir können sie tief durchdringen und uns in radikaler Offenheit dem Nicht-Wissen überlassen.
So hineingefallen in das Nicht-Wissen gleichen wir einem Samenkorn in der Erde, das im Verborgenen stirbt, sich wandelt und kraftvoll-zart keimend erwacht in die pure schöpferische Lebendigkeit des gegenwärtigen Augenblicks.
Es ist die Stille, die in uns Tore öffnet für diese Quelle nie versiegenden, unauslotbaren Lebens, sprudelnder Kreativität und unwiderstehlicher, alles durchdringender Verbundenheit.

Ich wünsche Ihnen und Euch ein tief wurzelndes Vertrauen in das Nicht-Wissen und
ein frohes Osterfest
Gabriele Shinmyo Geiger-Stappel

Dieser Beitrag wurde für den newsletter des Zenzentrum Offener Kreis Luzern Ostern 2024 erstellt.

Veröffentlicht von Gabriele Geiger-Stappel am 28. März 2024

DAS EINE HERZ

Es war gerade eben im September. Ich hatte eine Kontrolluntersuchung beim Kardiologen und war mir meines physischen Herzens dankbar bewusst. Selbst als Ärztin, der vieles vertraut ist, staune ich tief berührt über die rhythmischen Herzbewegungen im Ultraschallbild und die im EKG aufgezeichnete elektrische Aktivität. Dieses zentrale Organ in meiner Brust pocht und pocht und pocht schon so viele Jahre, ein Leben lang.
Weil wir leben, pulsiert unser Herz und weil unser Herz pulsiert, leben wir. Ursache und Wirkung sind eins.
Das physische Herz ist jedoch viel mehr als eine hochkomplexe Muskelpumpe. Es entfaltet seine psychische und spirituelle Wahrnehmungsfähigkeit dann, wenn wir unser Anhaften radikal lösen und loslassen, woran wir uns klammern. Wenn wir uns ganz dem Nicht-Wissen überlassen, können die intuitiven, kreativen, nicht-trennenden Qualitäten des Herzens im Zusammenspiel wirksam werden.

Etwas davon konnten wir intensiv erfahren in den Zeiten der Pandemie mit ihren Kontakteinschränkungen. Von Anna Gamma erhielten wir die Übung der Herzkontemplation, die wir zu Beginn des gemeinsamen Zazen live und online praktiziert haben: Ganz im Moment sein und sich bewusst machen, dass unsere Herzen miteinander kommunizieren und sich diese Herzens-Kommunikation innerhalb der ganzen Menschheit rund um den Planeten wie ein feines, starkes Netz voll Schönheit auszubreiten vermag. Diese subtile Erfahrung vertieft unsere Einsicht in die Einheit in aller Verschiedenheit. Und wenn wir anschließend unsere Namen hören und unsere Herzen bedingungslos füreinander öffnen, ohne Erwartungen, eröffnet sich uns im WIR der Verbundenheit die unbegrenzte Wirklichkeit, das EINE HERZ. Diese universale Essenz ist unbewegt und still und doch grenzenlos wirksam in jedem menschlichen Herzen und in der Vielheit der Dinge.                                                                 Gabriele Shinmyo Geiger-Stappel

Dieser Beitrag wurde im Newsletter Okt.23 des Zenzentrum Offener Kreis Luzern veröffentlicht.

Veröffentlicht von Gabriele Geiger-Stappel am 28. September 2023

Sich verneigen und dem Leben dienen

Eine junge Frau, die einige Tage „zum Schnuppern“ in einem Zen Kloster verbrachte, erzählte mir: „Man muss sich so oft verbeugen, vor lauter Verbeugen kommt man gar nicht mehr zum Wesentlichen“. Ich musste spontan lachen und überrascht lachte sie mit. Ja – wie kommt man denn zum Wesentlichen? Wo ist es denn, das Wesentliche? Um es vorweg zu nehmen: Still und wortlos ruht es im Wesen der zehntausend Dinge. Es ist nicht zu suchen und nicht zu finden und doch unbegrenzt wirksam und verkörpert in dir, in mir und in jeder Verneigung.

Wir westlich geprägte Menschen, ausgerichtet auf Selbstbestimmung und Individualität, verbinden das Wort „verbeugen“ in unserer Vorstellung mit „verbiegen“, sich klein machen und unterordnen. Und es ist auch nicht ganz unberechtigt, gab und gibt es doch in der Tat dieses autoritär und totalitär missbrauchte Beugen. Verbeugen im Sinne von Verneigen jedoch meint etwas anderes. Es ist ein würdevolles Zuneigen, der Ausdruck einer Demut, die nicht klein macht, sondern einer Selbstbewusstheit entspringt, die nicht im Ego verhaftet ist. Diese Demut strahlt stille Freude und Würde aus und verkörpert dabei Wertschätzung und Würdigung. So verneigen wir uns im Zen, wenn wir das Zendo betreten, vor dem Altar, vor unserem Platz, vor und gemeinsam mit der Sangha. Körper und Geist sind gesammelt in der Zuneigung zum „Wesen“ des Menschen, der uns gegenüber steht, zum Wesen der Dinge und dem Wesen allen Seins. Dann mag es geschehen, dass das „grenzenlos Wesentliche“ als Erfahrung aufleuchtet und sich hineinschenkt in das sich wieder Aufrichten und aufrecht in sich Stehen. In der wiederholten, achtsamen Praxis der Verneigung weitet sich unser Zugang zu dieser wesenhaften Erfahrung. So gestärkt kann aus der Allverbundenheit und inneren Freiheit der Mut wachsen, alle Gleichgültigkeit hinter sich zu lassen und mit ganzer Hingabe in jedem Moment dem Leben zu dienen.

Ich verneige mich mit Freude und Gassho vor Euch / vor Ihnen
Gabriele Shinmyo, Sensei
(dieser Beitrag wurde im NL des Zenzentrums Offener Kreis Luzern Mai 23 veröffentlicht.)

Veröffentlicht von Gabriele Geiger-Stappel am 2. Mai 2023

Karwoche

Bei unseren Abenden der Stille widmen wir in der letzten Einheit die Kraft der Meditation, das Joriki, einer Situation und Menschen, die unser Herz berühren, ja erschüttern. Oft sind es Situationen großer Not, Bedrohung und katastrophale Ereignisse. Oder es sind Momente großen Mutes, die uns aufrütteln, wenn Menschen Aufstehen, Unrecht aufdecken, für Gerechtigkeit einstehen und dafür Gefängnis und das eigene Leben riskieren. Es sind mutige Menschen überall auf der Welt, aktuell sind es die Frauen im Iran, die auf die Straße gehen. Einzelne Namen wie die belarusische Musikpädagogin Maryja Kalesnikawa und der russische Oppositonelle Alexej Navalny stehen für solch einen Mut, zu handeln aus einer inneren Freiheit, die nicht zurückschreckt vor allem Schrecken, der sie bedroht. Sie bleiben nicht stehen bei der Angst vor der eigenen Vernichtung, sondern vertrauen darauf, dass aus der Treue zu sich selbst, die zu einem radikal selbstlosen Handeln führt, eine befreiende Kraft erwächst, die über sie hinausgeht.

Heute gehen wir hinein in die Karwoche.

jezus im eliashaus latvia

Christlich verankerte Menschen schauen auf die Leidensgeschichte Jesu. In der unumstößlichen Treue zu seiner Erfahrung „Ich und der Vater sind eins“, lässt Jesus die Angst um sich selbst los und zeigt damit, wie Gott ist: Gott ist gegenwärtig, er ist auch gegenwärtig und sichtbar da, wo wir „Ja“ sagen zu unserer Ohnmacht, an Grenzen stoßen und ausgeliefert sind. Cynthia Bourgeault lädt in ihren Texten dazu ein, sich die Gesinnung Jesu anzueignen. Das ist der Sinn unseres DA-Seins in der Kontemplation. Wir sind da, nicht um abschweifenden und ausweichenden Impulsen die Führung zu überlassen, sondern uns selbstvergessend zu sammeln im „Gott ist gegenwärtig in mir“ und uns seiner transformierenden Kraft anzuvertrauen. Es ist das wortlose „Wachet und betet“ der Nacht.

Wir laden ein zur gemeinsamen Meditation
Dienstag 4. April 18.30 – 20.00 Uhr in Präsenz oder online
Donnerstag 6. April 21.00 – 22.00 Uhr online
Karfreitag 7. April 15.00 – 16.00 Uhr online
Link:https://us02web.zoom.us/j/88906435549

Veröffentlicht von Gabriele Geiger-Stappel am 4. April 2023

2023

Wir begrüßen Sie und Euch im frisch begonnen Neuen Jahr 2023 wieder zur gemeinsamen Momenten der STILLE, Zeiten des wachen Gewahrseins und der Offenheit für das, was uns beschenkt! Die Welt braucht uns als Beschenkte und Schenkende!

Wenn es nur einmal so ganz stille wäre.
Wenn das Zufällige und Ungefähre
verstummte und das nachbarliche Lachen,
wen das Geräusch, das meine Sinne machen,
mich nicht so sehr verhinderte am Wachen-
Dann könnte ich in einem tausendfachen
Gedanken bis an deinen Rand dich denken
und dich besitzen (nur ein Lächeln lang),
um dich an alles Leben zu verschenken
wie einen Dank.        (Rainer Maria Rilke)

 

 

Veröffentlicht von Gabriele Geiger-Stappel am 11. Januar 2023