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Sich verneigen und dem Leben dienen

Eine junge Frau, die einige Tage „zum Schnuppern“ in einem Zen Kloster verbrachte, erzählte mir: „Man muss sich so oft verbeugen, vor lauter Verbeugen kommt man gar nicht mehr zum Wesentlichen“. Ich musste spontan lachen und überrascht lachte sie mit. Ja – wie kommt man denn zum Wesentlichen? Wo ist es denn, das Wesentliche? Um es vorweg zu nehmen: Still und wortlos ruht es im Wesen der zehntausend Dinge. Es ist nicht zu suchen und nicht zu finden und doch unbegrenzt wirksam und verkörpert in dir, in mir und in jeder Verneigung.

Wir westlich geprägte Menschen, ausgerichtet auf Selbstbestimmung und Individualität, verbinden das Wort „verbeugen“ in unserer Vorstellung mit „verbiegen“, sich klein machen und unterordnen. Und es ist auch nicht ganz unberechtigt, gab und gibt es doch in der Tat dieses autoritär und totalitär missbrauchte Beugen. Verbeugen im Sinne von Verneigen jedoch meint etwas anderes. Es ist ein würdevolles Zuneigen, der Ausdruck einer Demut, die nicht klein macht, sondern einer Selbstbewusstheit entspringt, die nicht im Ego verhaftet ist. Diese Demut strahlt stille Freude und Würde aus und verkörpert dabei Wertschätzung und Würdigung. So verneigen wir uns im Zen, wenn wir das Zendo betreten, vor dem Altar, vor unserem Platz, vor und gemeinsam mit der Sangha. Körper und Geist sind gesammelt in der Zuneigung zum „Wesen“ des Menschen, der uns gegenüber steht, zum Wesen der Dinge und dem Wesen allen Seins. Dann mag es geschehen, dass das „grenzenlos Wesentliche“ als Erfahrung aufleuchtet und sich hineinschenkt in das sich wieder Aufrichten und aufrecht in sich Stehen. In der wiederholten, achtsamen Praxis der Verneigung weitet sich unser Zugang zu dieser wesenhaften Erfahrung. So gestärkt kann aus der Allverbundenheit und inneren Freiheit der Mut wachsen, alle Gleichgültigkeit hinter sich zu lassen und mit ganzer Hingabe in jedem Moment dem Leben zu dienen.

Ich verneige mich mit Freude und Gassho vor Euch / vor Ihnen
Gabriele Shinmyo, Sensei
(dieser Beitrag wurde im NL des Zenzentrums Offener Kreis Luzern Mai 23 veröffentlicht.)